Am 18. Juli 2025 erließ der Oberste Gerichtshof der Niederlande zwei wichtige Urteile zur Anwendung der inländischen Missbrauchsbekämpfungsbestimmung im Zusammenhang mit der Befreiung von der Quellensteuer auf Dividenden. Die Urteile bieten einen detaillierteren Rahmen für die Beurteilung, ob eine ausländische Holdinggesellschaft Teil einer "künstlichen Konstruktion" ist, und verfeinern damit die niederländische Auslegung des allgemeinen Grundsatzes der Missbrauchsbekämpfung im EU-Recht.
Im Mittelpunkt der Rechtssachen steht die Verweigerung der Steuerbefreiung für Dividenden, die an belgische Holdinggesellschaften ausgeschüttet werden, die letztlich im Eigentum von in Belgien ansässigen Familien stehen. Durch die Einführung von zwei wichtigen analytischen Tests – der "funktionalen Zuordnung" und der "De-facto-Kontrolle" – hat der Gerichtshof den Ansatz "Substanz vor Form" gestärkt, der zu einem Eckpfeiler der EU-Steuerrechtsprechung geworden ist, insbesondere nach den wegweisenden "dänischen Fällen" des Gerichtshofs der Europäischen Union (EuGH) aus dem Jahr 2019. Diese Urteile signalisieren einen Schritt hin zu einer sehr spezifischen, faktenbasierten Analyse von Holdingstrukturen, mit erheblichen Auswirkungen auf die internationale Steuerplanung.
Dieser Artikel wurde von Mario van den Broek ([email protected]) und Dick Brinkhof ([email protected]) verfasst. Mario und Dick sind Teil von RSM Netherlands Belastingadviseurs mit einem besonderen Fokus auf Steuern, Nachhaltigkeit und Strategie.
Rechtlicher Hintergrund: Die niederländische Anti-Missbrauchs-Bestimmung
Im Mittelpunkt stand in beiden Fällen die Auslegung von Artikel 4 Absatz 3 Buchstabe c des niederländischen Quellensteuergesetzes von 1965 (Stand 2018). Diese Bestimmung dient der Umsetzung der in der EU-Mutter-Tochter-Richtlinie enthaltenen General Anti-Abuse Rule (GAAR). Nach dieser Regel wird die Befreiung von der Quellensteuer versagt, wenn zwei kumulative Bedingungen erfüllt sind:
- Der subjektive Test: Der Hauptzweck oder einer der Hauptzwecke für das Halten der Beteiligung an der niederländischen Gesellschaft besteht darin, die Steuerpflicht einer anderen Person zu vermeiden.
- Der objektive Test: Das Bauwerk gilt als "künstliche Konstruktion oder Transaktion", die nicht aus "triftigen wirtschaftlichen Gründen, die die wirtschaftliche Realität widerspiegeln", errichtet wurde.
Die Aufgabe des Obersten Gerichts bestand darin, zu klären, wie diese Kriterien in der Praxis anzuwenden sind, und die innerstaatliche Bestimmung an die sich wandelnden Grundsätze des EU-Rechts anzupassen.
Analyse der Urteile
In beiden Rechtssachen ging es zwar um belgische Holdinggesellschaften, die Dividenden von einem niederländischen Investmentfonds erhielten, doch stellte der Sachverhalt zwei unterschiedliche Szenarien dar, die der Gerichtshof zu prüfen hatte.
Fallbeispiel: Der "Functional Attribution"-Test für aktive Holdinggesellschaften
Im vorliegenden Fall ging es um eine belgische Holdinggesellschaft ([X] N.V.), die ein aktives Unternehmen war, Beteiligungen an 17 weiteren Gesellschaften hielt und für mehrere ihrer belgischen Beteiligungen Managementtätigkeiten ausübte. Der Steuerpflichtige argumentierte, dass seine tatsächliche Geschäftstätigkeit es ausschließe, dass die Struktur als künstlich angesehen werden können.
Der Oberste Gerichtshof war anderer Meinung und führte den Test der "functional attribution" (functionele toerekening) ein. Er vertrat die Auffassung, dass die gesamte Geschäftstätigkeit einer Holdinggesellschaft für sich genommen nicht entscheidend sei. Entscheidend ist, ob die konkrete Beteiligung, die die Dividendenerträge erwirtschaftet, funktional mit dem wesentlichen Unternehmen des Unternehmens verbunden ist. Die Vorinstanz stellte fest, und der Oberste Gerichtshof bestätigte, dass die belgische Gesellschaft nicht aktiv an der Geschäftsführung oder dem Betrieb der niederländischen Zubringergesellschaft beteiligt war; Es handelte sich um eine passive Investition, die von ihrem Kerngeschäft abgekoppelt war.
Der Oberste Gerichtshof bestätigte diesen Ansatz und stellte fest, dass es möglich ist, dass nur bestimmte "Schritte oder Teile einer solchen Konstruktion" künstlich sind und daher in den Anwendungsbereich der Missbrauchsschutzbestimmung fallen. Dies ermöglicht es den Steuerbehörden, eine Unternehmensstruktur zu zerlegen und passive Investitionen innerhalb eines ansonsten aktiven Unternehmens zu isolieren und sie als künstlich zu kennzeichnen, wenn sie keinen ausreichenden Bezug zu den Hauptgeschäftsvorgängen aufweisen.
Fallbeispiel: Die passive Holdinggesellschaft und die "faktische Kontrolle"
Der zweite Fall betraf eine belgische Holdinggesellschaft ([X] B.V.B.A.) mit minimaler Substanz. Die wichtigsten Vermögenswerte waren die Beteiligung an dem niederländischen Fonds und zwei Oldtimer; Es gab keine Mitarbeiter oder spezielle Büroräume. Das Unternehmen wurde ursprünglich aus einem triftigen geschäftlichen Grund gegründet, hatte aber inzwischen seine aktive Beteiligung verkauft und fungierte nun in erster Linie als passives Anlagevehikel.
Bei der Analyse sowohl dieses als auch des ersten Falles führte der Oberste Gerichtshof ein zweites bestimmendes Kriterium ein:
"faktische Kontrolle" (feitelijke zeggenschap) über die Dividendeneinnahmen. Das Gericht blickte über die Rechtsform hinaus, um zu beurteilen, wer die Dividendenströme faktisch kontrollierte. Sie kam zu dem Schluss, dass die Endaktionäre (die belgischen Familien) die volle Kontrolle über die Entscheidung über die Reinvestition oder Ausschüttung der Gewinne behielten. Dies führte zu der kritischen Feststellung, dass die Holdinggesellschaft "nicht frei über die Dividenden verfügen kann, die sie von der BV erhält".
Dieser Mangel an autonomer Entscheidungsbefugnis über die eigenen Einnahmen war ein starkes Indiz dafür, dass die Holdinggesellschaft nicht als eigenständige wirtschaftliche Einheit, sondern als Kanal für ihre Aktionäre agierte. Das Gericht stellte fest, dass es bei dieser Beurteilung "auch dem Umstand Bedeutung beimessen konnte, dass es für den Betroffenen keine Verpflichtung gibt, die von der BV erzielten Gewinne ganz oder teilweise zu reinvestieren". Dies zeigt, dass das Fehlen einer im Voraus festgelegten Verpflichtung zur Weitergabe von Geldern nicht ausschließt, dass ein Unternehmen als „conduit“ eingestuft werden kann, wenn es in Wirklichkeit keine eigenständige Kontrolle über die Gelder hat.
Vorausschauendes Denken
Die Urteile des niederländischen Obersten Gerichtshofs bieten einen verfeinerten und strengen Rahmen für die Anwendung der Vorschriften zur Missbrauchsbekämpfung und schaffen mehrere wichtige Überlegungen für multinationale Unternehmen und Investmentfonds:
- Zusammenhang zwischen Investition und Geschäft: Für aktive Holdinggesellschaften ist es heute entscheidend, einen klaren funktionalen Zusammenhang zwischen einer bestimmten Beteiligung und den wirtschaftlichen Kernaktivitäten des Unternehmens nachzuweisen. Das Halten passiver Investitionen, die völlig vom Hauptgeschäft getrennt sind, wird eine genaue Prüfung auf sich ziehen.
- Autonomie bei finanziellen Entscheidungen: Holdinggesellschaften müssen nachweisen können, dass sie eine echte, autonome Kontrolle über die von ihnen erzielten Einnahmen ausüben. Dies erfordert, dass die Entscheidungen des Vorstands über die Verwendung der Mittel (Reinvestition, operativer Bedarf usw.) gut dokumentiert sind und ein unabhängiges unternehmerisches Urteilsvermögen widerspiegeln, anstatt einfach den Willen der Endaktionäre auszuführen.
- Die Beweislast: Während der Steuerprüfer zunächst die Last hat, objektive Indikatoren für eine künstliche Gestaltung zu liefern, zeigen diese Urteile, dass sich die Beweislast effektiv auf den Steuerpflichtigen verlagert, sobald solche Indikatoren vorliegen (z. B. Mangel an Substanz, leitungsähnliche Cashflows), um den Nachweis triftiger wirtschaftlicher Gründe für die Struktur zu erbringen.
- Entwicklung einer Struktur: Das Gericht erkannte ausdrücklich an, dass eine Struktur, die ursprünglich aus triftigen wirtschaftlichen Gründen errichtet wurde, später aufgrund einer Änderung der Umstände künstlich werden kann. Unternehmen müssen daher ihre Strukturen kontinuierlich überprüfen, um sicherzustellen, dass sie mit der wirtschaftlichen Realität in Einklang stehen.
Diese Urteile stellen einen wichtigen Schritt bei der innerstaatlichen Umsetzung der EU-Grundsätze zur Missbrauchsbekämpfung dar. Durch die Schaffung klarer, operativer Tests hat der Oberste Gerichtshof der Niederlande sowohl den Steuerzahlern als auch den Steuerbehörden einen detaillierteren, wenn auch strengeren Fahrplan für die Navigation durch die Komplexität des internationalen Steuerrechts an die Hand gegeben. Der Schwerpunkt liegt eindeutig auf der nachweisbaren wirtschaftlichen Substanz und dem echten Geschäftszweck, ein Trend, der sich voraussichtlich in der gesamten Europäischen Union fortsetzen wird.
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