Artikel 15 des OECD-Musterabkommens regelt, welches Land Einkünfte aus nichtselbständiger Arbeit besteuern darf. Dies betrifft Situationen, in denen eine in einem Land ansässige Person eine Arbeit in einem anderen Land ausübt und ein Steuerabkommen anwendbar ist.
1.1 Hauptregel und Ausnahme
Hauptregel ist, dass das Land, in dem die Arbeit physisch ausgeübt wird (Land der Beschäftigung), grundsätzlich erheben kann. Eine Ausnahme von dieser Regel, d.h. die Steuer auf das Wohnsitzland, tritt ein, wenn die folgenden Bedingungen kumulativ erfüllt sind:
- der Arbeitnehmer sich bis zu 183 Tage in einem Kalender-/Steuerjahr oder einem Zeitraum von 12 Monaten (je nach anwendbarem Steuerabkommen) physisch im Beschäftigungsland aufhält, und
- das Arbeitsentgelt des Arbeitnehmers nicht von einem Arbeitgeber im Beschäftigungsland oder im Namen eines Arbeitgebers gezahlt wird und
- Das Entgelt des Arbeitnehmers wird nicht von einer Betriebsstätte getragen, die der Arbeitgeber im Beschäftigungsland hat.
Für Beschäftigte im internationalen Verkehr (z.B. Luftfahrt) können abweichende Zuordnungsregeln gelten.
1.2 Praktische Beschwerden
In der Praxis führt dieser Artikel regelmäßig zu unterschiedlichen Auslegungen zwischen den Ländern der grenzüberschreitenden Beschäftigung. Die jüngsten Änderungen der Richtlinien und die Rechtsprechung haben zu einer erneuten Erläuterung einiger Schlüsselbegriffe in diesem Artikel geführt. Im Folgenden geben wir eine Zusammenfassung der aktuellen Punkte und Entwicklungen in den Niederlanden und den umliegenden Ländern.
2. Entwicklungen in den Niederlanden
2.1 Erläuterung des Begriffs "Arbeitgeber"
Im Dezember 2023 veröffentlichte der niederländische Staatssekretär für Finanzen ein Dekret, in dem der Begriff "Arbeitgeber" für die Zwecke der Steuerabkommen neu definiert wird.
Anlass für diese Überarbeitung war unter anderem ein Urteil des Obersten Gerichtshofs aus dem Jahr 2022, in dem entschieden wurde, dass OECD-Kommentare, die nach Abschluss eines Steuerabkommens veröffentlicht werden, nicht automatisch für die Auslegung dieses Abkommens relevant sind.
In der neuen Strategielinie wird betont, dass der Begriff "Arbeitgeber" materiell auszulegen ist. Das bedeutet, dass geprüft wird, wer tatsächlich für die Arbeit des Arbeitnehmers verantwortlich ist und Verantwortung dafür trägt und wer tatsächlich die Kosten für die Vergütung des Arbeitnehmers trägt. Es ist also nachdrücklich, dass nicht nur der formale Arbeitgeber berücksichtigt wird.
2.2 Besteuerung von Abfindungen
Eine weitere wichtige Frage betrifft die Behandlung von Abfindungen in grenzüberschreitenden Sachverhalten. In einem Beschluss aus dem Jahr 2022 wurde die Auslegung des OECD-Kommentars zu Artikel 15 angepasst.
Die wichtigste Regel ist nun, dass die Abfindung der Betriebszugehörigkeit zuzurechnen ist, auf der die Abfindung beruht. Das bedeutet, dass das Wohnsitzland oder das Beschäftigungsland den Teil des Freibetrags besteuern kann, der sich auf den Zeitraum bezieht, in dem der Arbeitnehmer dort gearbeitet hat.
Kann die Dienstzeit nicht mehr vollständig bestimmt werden, werden die letzten zwölf Monate der Beschäftigung herangezogen. Dieser Ansatz unterscheidet sich von früheren Interpretationen, die teilweise nur auf den Zeitpunkt der Auszahlung der Entschädigung abstellten.
In der Praxis kann dies zu unterschiedlichen Auslegungen zwischen den Ländern in Bezug auf die Vergabe von Abfertigungen führen.
2.3 Praktische Folgen für Arbeitgeber und Arbeitnehmer
Für Arbeitgeber bedeutet dies, dass sie bei grenzüberschreitender Beschäftigung sorgfältig abwägen müssen:
- Wer gilt als materieller Arbeitgeber;
- Wie ist die Dienstzeit der Arbeitnehmer gestaltet;
- Welche Bestimmungen des Abkommens gelten (und wie sind sie auszulegen?"), je nachdem, zum Zeitpunkt des Abschlusses des Steuerabkommens im Vergleich zum Zeitpunkt des neuen OECD-Kommentars zu Artikel 15.
Für Arbeitnehmer kann sich dies insbesondere bei Abfindungen oder kurzfristigen Auslandseinsätzen auf das Nettoeinkommen auswirken.
3. Jüngste Entwicklungen rund um Artikel 15 des OECD-Musterabkommens zur Besteuerung in der EU
Neben der Neudefinition des materiellen Arbeitgeberbegriffs in den Niederlanden und der Aufteilung bei Abfindungen gibt es auch die notwendigen Entwicklungen in den umliegenden Ländern.
3.1 Deutschland: Fokus auf wirtschaftliche Bindungen
Deutschland folgt weitgehend der OECD-Linie, legt aber in der jüngeren Rechtsprechung mehr Wert auf die wirtschaftlichen Bindungen des Arbeitnehmers mit dem Beschäftigungsland. In den Fällen, in denen ein Arbeitnehmer formell bei einem ausländischen Unternehmen beschäftigt ist, aber tatsächlich unter der Leitung eines deutschen Unternehmens arbeitet, gilt Deutschland als Beschäftigungsstaat. Dies steht im Einklang mit dem niederländischen Ansatz zur materiellen Arbeitgeberschaft, obwohl Deutschland im Allgemeinen eher zu dem Schluss kommt, dass es sich um einen wesentlichen Arbeitgeber handelt als die Niederlande.
3.2 Belgien: Verwaltungsvereinfachung und Entscheidungspraxis
Belgien hat Schritte zur Verwaltungsvereinfachung für Grenzgänger im Jahr 2024 unternommen. Es wurde eine Regelungspraxis entwickelt, nach der sich Arbeitgeber im Vorfeld Klarheit über die steuerliche Behandlung grenzüberschreitender Beschäftigung verschaffen können. Auch in Belgien wird dem OECD-Kommentar gefolgt, allerdings mit Raum für bilaterale Abkommen in Verträgen, zum Beispiel mit den Niederlanden und Luxemburg.
3.3 Frankreich: strikte Anwendung der 183-Tage-RegelFrankreich beharrt weiterhin auf einer strikten Anwendung der 183-Tage-Regel in Artikel 15 Absatz 2.
Nur wenn alle drei Voraussetzungen erfüllt sind (Kurzaufenthalt, Lohn wird nicht vom Beschäftigungsland gezahlt, keine Betriebsstätte), bleibt der Wohnsitzstaat zuständig. Damit scheint Frankreich eher an der formellen Arbeitgeberschaft festzuhalten.
In den jüngsten Fällen hat Frankreich wenig Interpretationsspielraum gezeigt, was bei unterschiedlichen Auslegungen der Abkommen zu einer Doppelbesteuerung führen kann.
3.4 Vereinigtes Königreich: Vergleichbar mit den Niederlande
Auch das Vereinigte Königreich folgt weitgehend der OECD-Linie. In Verträgen, die nach 2010 geschlossen werden, hat der materielle Arbeitgeber grundsätzlich die Nase vorn. Das Vereinigte Königreich verfolgt einen ähnlichen Test wie die Niederlande, ist aber zögerlicher, zu dem Schluss zu kommen, dass es ein bedeutender Arbeitgeber ist. Nur wenn ein Vertrag den wirtschaftlichen Ansatz ausdrücklich unterstützt, kommt das Vereinigte Königreich zu dem Schluss, dass es sich um einen materiellen Arbeitnehmer handelt.
4. Schlussfolgerung
Die Anwendung von Artikel 15 des OECD-Musterübereinkommens entwickelt sich weiter, was zum Teil auf unterschiedliche Auslegungen zwischen den EU-Mitgliedstaaten zurückzuführen ist. Der Trend geht hin zu einer materiellen Herangehensweise an die Beschäftigungspraxis und einer differenzierteren Verteilung von Vergütungen, wie z. B. Abfindungen.
Für Arbeitgeber und Arbeitnehmer in grenzüberschreitenden Situationen ist es von entscheidender Bedeutung, zu analysieren, wie Artikel 15 in den einzelnen Ländern und pro Vertrag angewendet wird: Er bleibt auf die konkreten Sachverhalte und Umstände des Falles zugeschnitten. Es ist von wesentlicher Bedeutung, dass die Arbeitgeber gut Buch führen:
- darüber, wo und wann ihre Arbeitnehmer in einem anderen Land arbeiten;
- über die Rolle der Arbeitnehmer bei diesen Tätigkeiten;
- darüber, wer tatsächlich Autorität über diese Arbeitnehmer ausübt; und
- wer (letztlich) die Kosten für die Vergütung der Arbeitnehmer trägt.
Wenn Sie dieses Problem haben oder andere Fragen zu international tätigen Mitarbeitern haben, wenden Sie sich bitte an einen unserer Spezialisten für Lohnsteuer.