In diesem Beitrag erfahren Sie:

  • Welche Risiken bestehen bei sog. leeren Rechnungen, die Arbeitnehmer ohne Wissen des Arbeitgebers ausstellen?
  • Wer haftet für geschuldete Mehrwertsteuer aus leeren Rechnungen?

Am 30. Januar 2024 hat der Gerichtshof der Europäischen Union ein Urteil in der Rechtsache C 442/22 erlassen, in der es sich um den Rechtsstreit zwischen dem polnischen Unternehmer und der Finanzverwaltung handelte. Der Gerichtshof entschied über die Haftung für die Ausstellung der sog. leeren Rechnungen (d.h. der falschen Rechnungen, die keine tatsächlichen Geschäftsvorfälle bestätigen). Der EuGH entschied, dass in Situationen, in denen ein offensichtlicher Betrug von Arbeitnehmern vorliegt, die Unternehmer nicht als Aussteller einer Mehrwertsteuerrechnung im Sinne von Art. 108 Abs. 1 des Umsatzsteuergesetzes und Art. 203 der Richtlinie 2006/112/EG des Rates angesehen werden können.

 

Kern des Rechtsstreits – Haftung für Mehrwertsteuer aus leeren Rechnungen

In dem betreffenden Fall wurde der Rechtsstreit mit der Finanzverwaltung von der Gesellschaft geführt, die im Bereich des Treibstoffhandels tätig ist. Die Arbeitnehmerin dieser Gesellschaft, die als Leiterin einer der Tankstellen beschäftigt war, stellte mehr als vier Jahre falsche Rechnungen aus, die den Verkauf von Treibstoff bestätigten.

Die Grundlage für Rechnungsstellung bildeten Kassenbelege, die für natürliche Personen ausgestellt wurden, die zuvor den Treibstoff an der Tankstelle gekauft hatten. Die Mitarbeiter der Tankstelle sammelten die von den Kunden weggeworfenen Kassenbelege ein und übergaben sie an die Leiterin, die –gegen den finanziellen Vorteil – Sammelrechnungen für Unternehmen ausstellte, von denen dann die Vorsteuer abgezogen wurde. 

Das Finanzamt deckte diese Machenschaften auf und erließ einen Bescheid, mit dem die Höhe der geschuldeten Mehrwertsteuer festgesetzt wurde. Nach Auffassung der Finanzverwaltung habe die Gesellschaft nicht die  erforderliche Sorgfalt an den Tag gelegt, denn die Leiterin habe die Rechnungen außerhalb des computergestützten Buchhaltungssystems der Gesellschaft ausstellen können, was als Fahrlässigkeit des Unternehmens anzusehen sei. 

Das Unternehmen erhob Einspruch gegen diesen Bescheid und argumentierte, dass nicht es, sondern die Arbeitnehmerin, der nach der Aufdeckung der Machenschaften fristlos gekündigt wurde, für die Ausstellung falscher Rechnungen verantwortlich sei. Der Fall ging bis vor das Oberste Verwaltungsgericht, das beschlossen hat, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof zwei Fragen zur Auslegung von Art. 203 der Mehrwertsteuerrichtlinie zur Vorabentscheidung vorzulegen: 

  1. Ist in dem Fall, dass ein Arbeitnehmer ohne Wissen und Zustimmung des Arbeitgebers eine falsche Mehrwertsteuerrechnung mit den Daten des Arbeitgebers ausstellt, der als der Steuerpflichtige angegeben wird, als diejenige Person, die die Mehrwertsteuer in der Rechnung ausweist und zur Entrichtung der Mehrwertsteuer verpflichtet ist, der Arbeitgeber oder der Arbeitnehmer anzusehen? 
  2. Ist es für die Bestimmung, wer zur Entrichtung der Mehrwertsteuer aus der leeren Rechnung verpflichtet ist, erheblich, ob dem Arbeitgeber die Nichteinhaltung der erforderlichen Sorgfalt vorgeworfen werden kann? 
     

Entscheidung: Der Arbeitgeber muss keine negativen Folgen tragen, die Mehrwertsteuer aus leeren Rechnungen kann vom Arbeitnehmer eingezogen werden

Nach Auffassung des EuGH schuldet die Mehrwertsteuer diejenige Person, die die Mehrwertsteuer in der Rechnung ausweist, wobei es nicht notwendigerweise ein Unternehmen ist, dessen Daten – ohne sein Wissen und Zustimmung – als Daten des Ausstellers auf der Rechnung angegeben wurden.

Im vorliegenden Fall schuldet daher die Mehrwertsteuer die Leiterin der Tankstelle, die die Daten ihres Arbeitgebers missbräuchlich verwendet und Rechnungen ausgestellt hat, die fiktive Verkäufe bestätigen. Zugleich betonte das Gericht, dass die Gesellschaft alle Schritte unternehmen sollte, um festzustellen, ob sie nicht an einem Betrug beteiligt ist. 

Der EuGH wies auch darauf hin, dass die Grenzen der Maßnahmen, die ein Unternehmen zur Aufdeckung von Steuerhinterziehung ergreift, vernünftigerweise festgelegt werden sollten. Es ist Sache des nationalen Gerichts zu beurteilen, ob das Unternehmen seine Arbeitnehmer nicht kontrolliert hat oder ob es sich an einem Betrug beteiligt hat, aber die Finanzbehörden können Unternehmer nicht gedankenlos für die Mehrwertsteuer aus den leeren Rechnungen haftbar machen – es ist nämlich notwendig, dem Steuerpflichtigen die Nichteinhaltung der erforderlichen Sorgfalt zu beweisen.

 

Auswirkungen des EuGH-Urteils auf die Lage der polnischen Steuerpflichtigen – um jemanden zur Verantwortung zu ziehen, muss man ihm die Schuld beweisen

Aus dem Urteil des EuGH geht eindeutig hervor, dass ein Unternehmen nur dann für die Mehrwertsteuer aus einer leeren Rechnung haftet, wenn es Steuerhinterziehung bezweckt oder keine Aufsicht über seine Buchführung ausgeübt hat. Wurden die leeren Rechnungen von einer Arbeitnehmerin ausgestellt, die einen finanziellen Vorteil daraus erzielt und die Daten ihres Arbeitgebers unbefugt verwendet hat, haftet sie für die Mehrwertsteuer. So hat der EuGH eindeutig festgestellt, dass die Gerichte einem Unternehmer, der auf den leeren Rechnungen als Aussteller erscheint, nicht „im Voraus“ die Haftung zuschreiben dürfen und dass jeder Fall einzeln geprüft werden sollte.

Polnische Finanzbehörden verwenden häufig den Begriff „erforderliche Sorgfalt“, ohne genau zu bestimmen, was es ist, welchen Rahmen es hat, und die Anforderungen, die polnische Beamte an Unternehmer stellen, sind oft übertrieben. Die im EuGH-Urteil aufgeführten Thesen können für Steuerpflichtige ein wichtiges Argument darstellen, das bei möglichen Streitigkeiten mit den polnischen Finanzbehörden sehr nützlich sein kann. In seinem Urteil weist der Gerichtshof eindeutig darauf hin, dass man unter Einhaltung der erforderlichen Sorgfalt die Vornahme von Maßnahmen durch einen Wirtschaftsteilnehmer versteht, die vernünftigerweise von ihm verlangt werden können. Genau an dieser Vernünftigkeit der Anforderungen fehlt es oft den polnischen Finanzbehörden, deswegen ist das EuGH-Urteil als vorteilhaft für das Interesse der Steuerpflichtigen anzusehen.